Die ältesten Speere der Menschheit

In der Menschheitsgeschichte umfasst die Altsteinzeit (Paläolithikum) den längsten Abschnitt. Er beginnt mit den ersten einfachen Steinwerkzeugen im Osten Afrikas vor mehr als 2,5 Millionen Jahren und geht in unserem Raum mit dem Ausklingen der letzten Eiszeit vor rund 10.000 Jahren zu Ende. Die wirtschaftlichen Grundlagen der Menschen dieser langen Epoche waren die Jagd und das Sammeln.

Während sich Steinwerkzeuge des Paläolithikums als in der Regel unvergängliche Kulturgüter in großer Zahl erhalten haben, sind Holzgeräte aufgrund ungünstiger Erhaltungsbedingungen nach wie vor äußerst selten. Zu den wenigen weltbekannten Ausnahmen gehören in Europa das bereits 1911 entdeckte, etwa 38 cm lange Spitzenbruchstück einer altpaläolithischen Eibenholzlanze von Clacton-on-Sea, Essex (Ostengland), die in die mittelpleistozäne Holstein-Warmzeit gehört, sowie die 1948 geborgene, etwa 2,4 m lange Eibenholzlanze von Lehringen, Ldkr. Verden, aus dem Eem-Interglazial, der letzten Warmzeit des Eiszeitalters. Mit dieser Stoßlanze war vor rund 120.000 Jahren ein Waldelefant erlegt worden.

Umso bedeutender ist ein 1994 im Braunkohletagebau Schöningen bei Helmstedt entdeckter altpaläolithischer Fundplatz, auf dem sich zusammen mit Steinwerkzeugen und zahlreichen Resten von Großsäugern, hauptsächlich dem Pferd, mehrere hölzerne Wurfspeere aus der Zeit des späten Urmenschen (Homo erectus) erhalten haben, die uns völlig neue Einblicke in die Entwicklung und Kultur des frühen Menschen vor etwa 300.000 Jahren ermöglichen.

Im Vorfeld des Tagebaus Schöningen wird vom Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege, Hannover, vom Verfasser seit 1983 eine archäologische Großmaßnahme durchgeführt, vielfältig unterstützt und gefördert durch die abbautreibende Braunschweigische Kohlen-Bergwerke AG, Helmstedt. Bis einschließlich 1991 wurden zahlreiche Siedlungen und Gräber aus der Jungsteinzeit sowie der Bronze- und Eisenzeit

(ca. 5.500 v. Chr. bis Christi Geburt) vor dem heranrückenden Schaufelradbagger ausgegraben, insgesamt auf Grabungsflächen von etwa 350.000 m².

Seit 1992 wurden dort zwischen 8 bis 15 m unter der heutigen Geländeoberfläche in den mächtigen eiszeitlichen Deckschichten oberhalb der tertiären Braunkohle gleich mehrere Fundplätze aus der frühen Altsteinzeit entdeckt und untersucht. Diese Fundplätze, auf denen sich sogar verschiedenartige Geräte aus Holz erhalten haben, gehören in das Altpaläolithikum und sind mit großem Abstand die bisher ältesten Siedlungsnachweise des Menschen in Niedersachsen.

Im Herbst 1994 begannen Rettungsgrabungen in einem neuen Fundhorizont, der in Seerandablagerungen in einer torfigen Mudde liegt. Vegetationsgeschichtliche Untersuchungen und Analysen der Molluskenfunde belegen für diesen Fundplatz ein kühl temperiertes Klima mit Wiesen- und Waldsteppen am Ende einer Warmzeit. Diese, das neuentdeckte Reinsdorf-Interglazial, ist die mittlere von drei Warmzeiten, die in Schöningen zwischen der Elster- und der Saale-Eiszeit nachgewiesen werden konnten. Bis Ende 1997 wurden etwa 2.000 m² dieses Fundplatzes ausgegraben, mit bisher weit mehr als 30.000 Jagdbeuteresten, überwiegend vom Pferd. Zahlreiche Knochen sind zerschlagen oder weisen Schnittspuren von Steinwerkzeugen auf. Unter den Feuersteinartefakten finden sich neben Werkzeugen wie Schabern und Spitzen hunderte von Retuschierabfällen.

Bereits Ende 1994 wurde ein qualitätvoll bearbeitetes Holzgerät freigelegt. Es ist 78 cm lang, bis zu 3 cm stark und an beiden Enden zugespitzt – vermutlich ein Wurfholz. Für diesen Fund gibt es aus der gesamten Altsteinzeit bisher keine Parallele!

Seit dem Spätsommer 1995 wurden auf diesem Fundplatz weitere Holzobjekte entdeckt und geborgen, die den genannten Holzgerätfund in seiner Bedeutung für die Kulturgeschichte der frühen Menschheit weit übertreffen. Es handelt sich um insgesamt sieben recht gut erhaltene Holzspeere. Sie haben Längen von 1,82 m bis ca. 2,50 m bei einem maximalen Durchmesser von ca. 3 cm bis 5 cm.

Nach den Holzartenbestimmungen durch W. H. Schoch sind bis auf eine Ausnahme alle Speere, ebenso wie das mutmaßliche Wurfholz, aus Fichte hergestellt. Es sind dafür Stämmchen ausgewählt und die Spitzen der Speere auf z. T. mehr als 60 cm Länge jeweils aus der Basis der Stämmchen herausgearbeitet worden. Die Astansätze wurden sorgfältig abgearbeitet. Der größte Durchmesser und Schwerpunkt liegt bei den Speeren im Vorderteil des Schaftes. Dies lässt erkennen, dass die Schöninger Stücke keine Stoßlanzen, sondern Wurfspeere sind.

Damit liegen aus dem Braunkohletagebau Schöningen die ältesten vollständig erhaltenen Holzspeere der Welt vor (Alter ca. 300.000 Jahre). Die Wurfspeere aus Schöningen fanden sich auf einem Jagdlagerplatz inmitten zahlreicher Knochen von mindestens 15 Pferden, die vermutlich mit diesen Waffen an einem Seeufer gejagt worden sind. Sie werden daher ganz neue Erkenntnisse über den Zeitraum und die Umstände bei der Herausbildung der Großwildjagd zur Zeit des Homo erectus liefern, denn es sind zugleich die ältesten vollständig erhaltenen Jagdwaffen der Menschheit. Sie belegen eindeutig, dass der Urmensch (und erst recht der später lebende Neandertaler) seine Ernährung nicht, wie in den vergangenen Jahrzehnten besonders von anglo-amerikanischen Prähistorikern postuliert, überwiegend durch das Erbeuten von Aas gesichert hat, sondern ein äußerst geschickter Jäger war. Ausgestattet mit hervorragenden technischen Fertigkeiten in der Holzbearbeitung war er zu dieser frühen Zeit längst befähigt, eine Großwildjagd mit speziellen Waffen vorausschauend zu planen, zu organisieren, zu koordinieren und erfolgreich durchzuführen. Die Speerfunde ermöglichen somit subtile Einblicke in altpaliolithische Arbeits- und Lebensweisen, besonders in Hinblick auf eine effektive Nahrungsbeschaffung sowie der damit verbundenen Arbeitskooperation, und tragen so dazu bei, ein neues Bild vom frühen Menschen, seinen geistigen Fähigkeiten und auch seinem sozialen Verhalten zu entwerfen. Und dies nach dem Wärmemaximum des Reinsdorf-Interglazials zu bereits kühleren Bedingungen, im Übergang zur nächsten Kaltzeit, in einer durch offene Wiesen- und Waldsteppen gekennzeichneten Landschaft am Nordrand der deutschen Mittelgebirgszone.

Aus: Archäologie in Niedersachsen 1, 1998, 47-49